MIT DEM KOPF DURCH DIE WAND

Studierende der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF und der rumänischen Nationalen Theater- und Filmuniversität „I.L.Caragiale“ in Bukarest gingen für 3 Wochen ins Gefängnis.

Die rumänische Haftanstalt in Botosani, im Nordosten des Landes, öffnete ihr Tor für eine dokumentarisch-experimentelle Filmwerkstatt.

Diese Werkstatt wurde von
Prof. Susanne Schüle und Andrei Schwartz initiiert

AUSGANGSPUNKT

Für den Dokumentarfilm Himmelverbot haben Andrei Schwartz (Regie) und Susanne Schüle (Kamera) 2013 in dem Gefängnis in Botosani gedreht und hatten daher gute Kontakte zu der Gefängnisleitung. Damals entstanden die ersten Überlegungen, mit Studierenden beider Filmhochschulen und unter Einbeziehung von Gefängnisinsassen, über einen längeren Zeitraum dokumentarisch hinter den Gefängnismauern zu arbeiten. Bereits 2011 veranstaltete Andrei Schwartz mit Unterstützung der Nationalen Rumänischen Gefängnisverwaltung mit Insassen der Haftanstalt über deren Alltag einen einwöchigen Dokumentarfilm-Workshop.

HIMMELVERBOT

Gavriel Hrib, lebenslänglich verurteilt, kommt aufgrund der EU-Integration Rumäniens nach 20 Jahren Haft frei-, überraschend für ihn selbst. Sein Versuch, sich wieder in die rumänische Gesellschaft zu integrieren, scheitert. Der Film erzählt den Weg der Identitätssuche über Grenzen hinweg und die Geschichte einer Freundschaft zwischen Filmemacher und Protagonist mit großer Warmherzigkeit und Selbstironie.

2014 | DE/RO | 86 min
Regie: Andrei Schwartz
Kamera: Susanne Schüle

Webseite

GRUNDÜBERLEGUNG

Die Verknüpfung eines Filmstudierenden-Workshop mit den speziellen Gegebenheiten einer Haftanstalt in Rumänien bot die Chance eines intensiven Austauschs unter Studierenden aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Einzigartige Erfahrungen im Umgang mit den teilnehmenden Protagonisten (Strafgefangene) in einer ansonsten tabuisierten Umgebung konnten gesammelt werden. Diese Auseinandersetzung würde nicht nur den herkömmlichen Blick der Studierenden auf die Realität beeinflussen, sondern auch das Bewusstsein für die Folgen ihres Tuns in ein anderes Licht rücken.

Vorweg

WORKSHOPS

2017 hielten Susanne Schüle und Andrei Schwartz eine Masterclass an der UNATC Bukarest über die unterschiedliche Herangehensweise im Dokumentarfilm  ab. 

ABSTECHER OST über den Umgang mit der Realität in rumänischen Spiel- und Dokumentarfilmen und das Seminar von BOLEX BIS 360 GRAD.

Mehr über die Rumänische Neue Welle (PDF)

ERWARTUNGEN

„Abgesehen von der unweigerlich doch voyeuristischen Faszination für Gefängnisse, interessiert es mich dieses Bild vom Verbotenem, Gefährlichem, durch eine eigene Erfahrung wett zu machen und eben nicht in ein reisserisches Abbilden zu kommen.“

Jannis Greff Montage Student

„Den Austausch mit den rumänischen Filmemachern über schicksalhafte Prägungen im Kontext zu den historischen Ereignissen der jüngeren rumänischen Vergangenheit halte ich für extrem interessant.“

Jonas Römmig Cineatography Student

„Das Gefängnis als poetischer und metaphorischer Raum.
Was tut man mit seinem Leben mit den Limitationen die man hat? Die Kamera als Spielball.“

David-Simon Groß Cinematography Student

„Über diesen Ort weiß ich nichts. An diesem Ort werde ich ein Fremdkörper sein. Schlimmer noch: Ein Schaulustiger.“

Pavel Mozhar Regie Student

3 Wochen Knast

KENNENLERNEN

Nach zwei Tagen Flug und Zugfahrt kamen wir endlich in Botosani an. Die ersten Tage im Gefängnis waren für viele Studierende anstrengend. In einer langen Sitzung mit der Gefängnisverwaltung wurden wir mit einem Paket von Vorsichtsmaßnahmen, Regeln und Verboten vertraut gemacht. Auch für die Gefängnisleitung bedeutete die Werkstatt ein riskantes Novum, so dass auf beiden Seiten Stress und Unsicherheit zu spüren waren. Dann endlich wurden wir durch das Tor des Haftareals geführt, ein unübersichtliches Labyrinth von Trakten, Gängen, Stacheldrahtverschlägen, Wachtürmen und Eisentüren, die hinter uns mit einem lauten Knall ins Schloss fielen. Die Gefangenen riefen uns aus ihren vergitterten Fenstern zu. Wir konnten sie aber nicht sehen und fühlten uns als Eindringlinge.

Spätestens jetzt wird’s einem klar, dass es einen langen Weg bedarf, bis die Fremdheit und die gegenseitlichen Ängste und Vorurteile abgelegt werden können. Und da sind noch die Sprachbarrieren, die die deutschen Studierenden zu überwinden haben, um selbstständig mit den Inhaftierten kommunizieren zu können.

Vollständiger Text

WERKZEUGE

Ein Forschungsansatz der Werkstatt war das Hinterfragen des Einsatzes der Gestaltungsmittel. An ein und demselben Ort die unterschiedlichsten Filmtechniken einzusetzen und somit die Arbeitsweisen, Ästhetik und Wirkungen vergleichen zu können, schien uns ein interessantes und lehrreiches Experiment zu sein. Welche Erzählweisen und Strategien wählen die Studierenden, welche Wirkung und Ästhetik werden im Filmmaterial sichtbar sein?

WIR HATTEN DABEI

2x analoge 16mm Kameras

Bolex H16 RX5

Anleitung - DIY S/W Filmentwicklung
1x analoge Mittelformatkamera

Mamiya

3x Consumer Videokameras

Sony PXW-X70

3x digitale Filmkameras

Sony FS7, Sony F55, Panasonic VaricamLT

1x 360 Grad Kamera

GoPro Fusion Bundle

Technische Hintergründe

DREHEN

Es dauert über eine Woche bis die ersten Teams mit den eigentlichen Dreharbeiten beginnen. War es ursprünglich verboten, außerhalb der festgelegten Drehslots zu filmen, wird inzwischen das Drehen auch während dem Mittagessen und nach Einschluss erlaubt. Es kommt immer öfters vor, dass die Studierenden und Häftlinge für längere Zeit unbeaufsichtigt drehen können, sodass Ungezwungenheit und Nähe entstehen kann.

Einem Team werden sogar kleine Kameras erlaubt, mit denen die Insassen selbst drehen durften. Diese Kameras müssen zwar über Nacht bei den Wärtern abgegeben werden, das gedrehte Material wird von diesen aber nicht gesichtet. Der Einsatz einer 360 Grad Kamera ist ebenfalls ein Novum.

Mit der Zeit fühlen wir uns immer weniger als Fremdkörper im Gefängnisalltag. Auch die Gefangenen scheinen sich an uns gewöhnt zu haben, manche von Ihnen warten morgens bereits auf uns. Ovidiu Fecior: „Mir ist es aufgefallen, als sie euch erblickten, tauchte ein Schmunzeln in ihren Gesichtern auf. So als wärt ihr irgendwelche Verwandte. Für mich eigenartig, so was im Gefängnis zu beobachten, fast wie Freundschaft“. Um so mehr wir von einandern wissen, desto leichter wird nicht nur die Kommunikation, sondern auch das Filmen. Jetzt entsteht jene Basis, die wir am Anfang des Drehens so vermisst hatten: die Nähe zu unserem Gegenüber.

Vollständiger Text

FILMISCHES RÉSUMÉ von Susanne Schüle

Ergebnisse

6 Monate später

WIEDERSEHEN

Im Mai 2019 gab es ein Wiedersehen mit Botosani. 12 der Workshop-Teilnehmenden aus beiden Filmuniversitäten betraten erneut die Strafanstalt, um die 8 Kurzfilme, die während des Workshops entstanden waren, den dortigen Insassen und dem Personal zu präsentieren. Diese Unternehmung war nicht nur eine logistische Herausforderung, denn viele der 500 Insassen und ihre Wärter waren auf die filmischen Ergebnisse gespannt. Auch das Wiedersehen mit den Protagonisten war äußerst emotional. Sie schilderten uns, wie sehr sie sich während des Workshops an uns gewöhnt hätten und an manche unverhofften Freiheiten.

Nicht mal in ihren kühnsten Träumen hätten diese Insassen gedacht, dass es ihnen erlaubt werden könnte, ohne Bewachung inmitten einer Studentenhorde zu agieren. Deswegen hätte unser Weggang auf sie wie eine „zusätzliche Wegschließung“ gewirkt, ein Knast im Knast. Umso froher waren sie über unsere Rückkehr. Und die Filme? Ja, sie wären schon ok, aber für sie gar nicht so aufregend, bloß ihr Alltagstrott in Bildern, den sie in und auswendig kannten. Die Q &As fanden nach der ersten Vorführung auf dem harten Betonboden des Ausgangshofs, einem überdimensionierten Käfig von etwa 60 qm, statt. Im wilden Durcheinander von Wärtern, Sozialarbeitern, Insassen und Studenten wurden über die ersten Eindrücke diskutiert.

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REAKTIONEN

„Manchmal ist es nicht unbedingt angenehm, sich fremden Blicken in diesem Ausmaß auszuliefern. Mit Sicherheit werden manche Bilder negativ ausgelegt, wenn man uns mit anderen Strafvollzugssystemen vergleichen sollte. (...) Aber ich denke, dass diese Filme wie eine Art Gradmesser für den Zustand des heutigen Strafvollzugs sein werden... Und ich glaube auch, dass jeder, der im Strafvollzug tätig ist, diese Filme sehen sollte.“

Christina Livadariu stellv. Anstaltsleiterin

„Vielleicht kamen die Studierenden hierher mit Vorurteilen und sie haben sie dann korrigiert. Zum Besseren… Trotz der Tatsache, dass einige der Wärter ihnen gegenüber nicht freundlich gewesen sind, das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich habe da nicht eingegriffen, damit die Studenten einen unverfälschten Eindruck von uns bekämen, so wie wir wirklich sind. Wie überall gibt es nette und weniger nette Personen.“

Cladiu Onofrei Oberwärter

„Mir ist es aufgefallen, als sie euch erblickten, tauchte ein Schmunzeln in ihren Gesichtern auf. So als wäret ihr irgendwelche Verwandte. Für mich eigenartig, so was im Gefängnis zu beobachten, fast wie Freundschaft.“

Ovidiu Fecior Sozialarbeiter

„Ich habe 26 Jahre Knast auf dem Buckel, aber so was konnte ich mir nicht vorstellen. Unmöglich. In den Achtzigern müsste ich mich krank meldete, damit ich ein weibliches Wesen im Knast erblicken konnte, auf der Krankenstation wohl gemerkt. Für mich war´s unvorstellbar, dass Studentinnen so nah bei uns sein dürften.“

Insasse (Sektion 1) bei der Diskussion nach der Vorfühung

„Zuerst habt ihr uns für Mörder und Halunken gehalten… Später habt ihr gemerkt, dass wir auch nur Menschen sind… Nachdem einige von euch bei uns in der Zelle gefilmt haben, hatten sie einen anderen Eindruck von uns. Wir entsprechen nicht mehr jenem Stempel, den die Gesellschaft uns verpasst hatte.“

„Pirat“, Insasse (Sektion 1) bei der Diskussion nach der Vorführung

„Es wird allgemein angenommen, dass auf dem Zellentrakt die Wärter das Sagen haben. Ich habe aber erlebt, wie diesmal ein Insasse seinen Wärter mit der Kamera filmte. Mit der Kamera, die ihr ihm zu Verfügung gestellt habt. Man sah dem Beamten an, dass er sich dadurch verwundbar fühlte. Es war eine Demütigung für ihn und der Insasse wusste das. Die Kamera war in seiner Hand ein Machtinstrument. Die Rollen waren auf einmal vertauscht und der Wärter empfand sich als der schwächere“

Ovidiu Fecior Sozialarbeiter

INTERVIEWS UND DISKUSSIONEN

Interview | Christina Livadariu (stellv. Anstaltsleiterin)
Interview mit Claudiu Onofrei (Oberwärter) und Ovidiu Fecior (Sozialarbeiter)
Diskussion nach den ersten Vorführungen der Filme
Diskussion mit den Insassen über den Film 'Long Days'

Reflektionen

Künstlerische Forschung

SOZIALE INTERVENTION

Dokumentarfilme zu machen ist nicht nur ein bloßes Abbilden der Realität, sondern immer auch ein Eingriff in diese. Auch wenn wir denken, wir würden „nur“ beobachten, greifen wir schon durch unsere bloße Anwesenheit, bewusst oder unbewusst in den Lauf der Dinge ein und hinterlassen Spuren am Ort des Geschehen.

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ZWISCHEN KINO IM KOPF UND PHYSISCHER IMMERSION

Es gibt zwei filmische Realitäten. Wodurch unterscheiden sich der imaginäre Raum der stummen 16 mm Bolex von der virtuellen Räumlichkeit der 360 Grad Kamera? Eine Gegenüberstellung der verschiedenen Herangehensweisen und ihre Auswirkung auf die dokumentarische Filmarbeit.

SPONSOREN, UNTERSTÜTZER UND MITWIRKENDE

Justizvollzuganstalt Botosani
Cristian Ieremie, Cristina Livadariu, Daniel Pinzariu, Claudiu Onofrei, Ovidiu Fecior, Teodor Rotariu, Anna-Maria Rotariu und alle Anderen.

Nationale Strafvollzugsverwaltung
Tiberiu Firinel Ungureanu, Mihaela Morar

Stadtverwaltung Botosani
Cătălin-Mugurel Flutur, Sorin Bradu, und sonstige Mitarbeiter*innen.

Sport Club Botoṣani
Mia Roata

Goetheinstitut Bukarest
Dr. Joachim Umlauf, Marina Neacsu, Dr. Evelin Hust

Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF

Dozent*innen
Prof. Susanne Schüle, Andrei Schwartz und Siri Klug

Studierende
Jan Philip Ernsting, Lasse Frobese, Jannis Greff, David Simon Gross, Viktoria Janssen, Aleksandra Landsmann, Pavel Mozhar, Jakob Reinhardt, Jonas Römmig, Leonard Schmidt, Anastasia Stolyarova, Lisa Wischer, Christian Zipfel

Mitarbeiter*innen
Andrea Wohlfeil, Uli Kunz, Enrico Matthias, Prof. Gesa Marten, Prof. Marlis Roth, Prof. Hubertus Rath , Prof. Karim Elias, Fee Altmann und Hans Neubauer (Institut für künstlerische Forschung)

Caragiale Academy of Theatrical Arts and Cinematography

Dozent*innen
Prof. Copel Moscu, Prof. Doru Nitescu, Napoleon Helmis

Studierende
Lucia Chicos, Alexandra Diaconu, Teona Galgotiu, Corinna Hinkov, Roxana Iorgulescu , Letitia Popa, Enxhi Rista, Denisa Velicu