Zwischen Kino im Kopf und physischer Immersion

360 Grad

Die Auseinandersetzung mit dem eingesperrt sein – räumlich wie auch mental – war die Motivation die 360° Filmtechnik bei THE RAIN IS FALLING NOW WAS ALSO FALLING BACK THEN im Gefängnis zu erproben. Dabei galt es zu erforschen, inwieweit dieses Medium den Zustand des Gefangenseins unmittelbar erlebbar machen kann. 

360° Film ist eine technomorphe Kameratechnologie, deren Bilder deutlich auf den Apparat verweisen, die sie ohne menschliches Zutun erstellt. Es handelt sich um eine statisch beobachtende Kamera, die rundum, scheinbar ohne Subjektivität alles zugleich filmt. Die visuelle Gestaltung beschränkt sich auf den Aufstellungsort der Kamera und den Zeitpunkt, und Dauer der Aufnahmen. Der Einsatz von 360 Grad Technologie setzt sich mit der totalen Überwachung auseinander. Unsere Erwartung, dass diese Auseinandersetzung Denkprozesse bei den Insassen und bei der Gefängnisleitung anstoßen wird, hat sich erfüllt.

Der Hype um 360 Grad Kameras entstand durch das Versprechen einer unmittelbaren Wirklichkeitserfahrung für den Zuschauer. Man fühle sich beim Schauen, als würde man sich selber im filmischen Raum befinden. Löst sich dieses Versprechen ein?

Christian Zipfel hat bei dem Film THE RAIN IS FALLING NOW WAS ALSO FALLING BACK THEN die 3 Insassen zunächst mit einer herkömmlichen DSLR Kamera ausführlich interviewt. Nachträglich hat er diese Aufnahmen sphärisch in die 360° Welt projiziert. Die Audioaufnahmen der Interviews wurden Voice Over über das 360° Material montiert. Die 360° Kamera wurde wie eine Videofalle in der zu portraitierenden Zelle aufgestellt. Um die Authentizität nicht zu brechen und nicht ebenfalls im sphärischen Bild aufgezeichnet zu werden, hat das Team den Drehort beim Dreh verlassen. Nach jedem Take wurden die Protagonisten gefragt, was innerhalb der letzten Minuten passiert war. Ausgehende von diesen Informationen wurde dann die nächste Aufnahme konzipiert. 

Die Abwesenheit des Filmteams im Moment der Aufnahme führte dazu, dass die Zelle zu einer black box wurde. Erst nach 3 Tagen, als das Material gerendert war, konnte Christian Zipfel sehen was sich in der Zelle tatsächlich abgespielt hatte. Erstaunlich war, dass die 360° Kamera die Zellenbewohner nicht sonderlich beeindruckte. Auf dem Videomaterial ist zu sehen, wie souverän sie in diesen Szenen agieren. Entweder sie haben mit der Zeit das wachsame Auge in ihrer Zelle vergessen, oder aber ganz bewusst die Kamera ignorierten, um Christian Zipfel brauchbares Material zu liefern.  

Alle filmische Mittel wie Bewegung, Nähe-Distanz, Schärfe-Unschärfe, Bildwinkel, und unterschiedliche Einstellungsgrößen, die wichtig für die narrative Immersion sind, existieren bei 360 Gradaufnahmen nur unter großem technischem Aufwand bzw. im dokumentarischen Kontext fast gar nicht. Wie kann trotzdem eine filmische Narration entstehen?

Die Montage von 360° Filmen basiert nicht auf dem Prinzip Schuss/Gegenschuss, da dieser Perspektivwechsel der Entscheidung des Betrachters unterliegt. Der dramaturgische Aufbau, der in der Montage erarbeitet wird, verhält sich jedoch analog zum herkömmlichen Film. Emotionale Entwicklungen und dramatische Wendepunkte müssen ebenso aufgebaut und etabliert werden. Die filmische Narration wird demnach über eine Aneinanderreihung von One-Shot-Szenen gestaltet. Es ist sehr unzuverlässig, sich auf eine intendierte Blickführung zu verlassen, da die Seherfahrung und die Rezeption des fertigen 360° Films sehr individuell sind. Die narrative Führung folgt einer omnipräsenten, auditiven Logik und keiner visuellen Logik, anderenfalls kann zu einer lückenhaften Erzählung kommen. 360° Aufnahmen ermöglichen eine authentische und möglichst wenig beeinflusste Betrachtung der Realität. Ansprüche, die dem „Direct Cinema“ sehr nahekommen. Die Abwesenheit des Teams führt jedoch dazu, dass weniger Energie im Raum ist und keine Reaktionen provoziert werden. Je nach Erzählintention kann das 360° Format sinnvoll genutzt werden. Für nüchterne Alltagsbeobachtungen und prozesshafte Darstellung eignet sich die Technik sehr, für Narrationen, die eine persönliche Bindung des Filmemachers zum Protagonisten benötigen, weniger.  THE RAIN IS FALLING NOW WAS ALSO FALLING BACK THEN benutzt eine Kameraperspektive, die dem Blick eines Gefangenen imitiert, der die gefilmte Szenerie bloß beobachtet. Der Betrachter hat beim Anschauen tatsächlich zunächst das Gefühl inmitten der Zelle zu sein. Dieser Eindruck lässt allerdings auf Grund bildtechnischer Aberrationen und mangelnder Schärfe relativ schnell nach. Aufgrund der rasanten technischen Weiterentwicklungen wird die Abbildungsqualität und damit die räumliche Immersion zukünftig zunehmen.

Für die Insassen war es ein großes Erlebnis diese neue Technik zum ersten Mal auszuprobieren und mit einer VR-Brille, die wir mitgebracht hatten durch den 360 Grad Film in ihre eigene Zelle erneut einzutauchen.

Es gab Insassen, die bei der Ansicht mit Brille fast umgefallen wären, so neuartig und ungewohnt waren das visuelle Erlebnis und der Verlust von körperlicher Orientierung. Andere wollten die Brille gar nicht mehr abgeben, sondern am liebsten ewig weitergucken.