Soziale Intervention

Dokumentarfilme zu machen ist nicht nur ein bloßes Abbilden der Realität, sondern immer auch ein Eingriff in diese.

Auch wenn wir denken, wir würden „nur“ beobachten, greifen wir schon durch unsere bloße Anwesenheit, bewusst oder unbewusst in den Lauf der Dinge ein und hinterlassen Spuren am Ort des Geschehen. Wir müssen Verantwortung für die Veränderungen, die wir auslösen, übernehmen. Es gibt nichts Schlimmeres, als „verbrannte Erde“ nach Beendigung der Dreharbeiten zu hinterlassen.

Dazu kommt, dass wir durch unsere Haltung und Perspektive den Charakter der Aussage und deren Folgen bestimmen. Wir schreiben uns in den Film bzw. in die Darstellung der Realität ein.

Alle Teilnehmer haben sich bewusst oder unbewusst während der Werkstatt mit dem Aspekt der Interventionen im dokumentarischen Arbeiten und dem Umgang mit den Auswirkungen auseinandergesetzt.

Mithilfe von zahlreichen Interviews vor, während und nach den Dreharbeiten versuchten wir dieses Phänomen zu erkunden. Die Studierenden wurden aufgefordert ihre Erwartungen vorab zu formulieren, während den Dreharbeiten Erlebtes zu notieren und nach Ansicht der fertigen Filme sich gegenseitig in der Gruppe zu interviewen, die Häftlinge zu befragen, wie auch wir Lehrende das Gefängnispersonal interviewt haben.

Wie verändern wir den Ort, in dem wir uns bewegen? Wie verändern wir uns, wenn wir ein uns unbekanntes soziales Feld – wie Hafträume – mit der Kamera betreten? Was löse ich als Filmemacher*in aus, wenn ich mich für einen Protagonisten und gegen einen anderen entscheide? Wie verändere ich die Gruppendynamik oder die gefängnisspezifischen Hierarchien durch die Anwesenheit meines Filmteams oder durch die Fokussierung auf bestimmte Gruppen oder Individuen? Gibt es Gewinner und Verlierer in dem neu entstandenen Gefüge? Kann und muss ich dem Protagonisten helfen? Oder schade ich ihm durch meine Aufmerksamkeit? In wie weit kann ich meiner Hauptfigur trauen oder manipuliert sie mich, um Vorteile zu erzielen? Was löst die Begegnung bei mir aus, wie gehe ich mit meinen Ängsten um? Wie kann auch der Insasse von unserer Begegnung profitieren?

Mit diesem Koffer voller Fragen betraten wir, 22 Studierende und 3 Lehrkräfte, die Hafträume von Botosani, wo wir drei Wochen lang ein und aus gingen und nach eigenem Gutdünken filmen konnten. Dies ist völlig ungewöhnlich für ein Gefängnis.

Auf die Frage, was sie empfunden hatte, als eine Gruppe von 22 Studierenden dort reinplatzte, antwortete später die stellvertretende Anstaltsleiterin, Cristina Livadariu: „Ich habe mich gefragt, was mich bloß geritten hat? (…) Ich glaube, dass es in Rumänien oder anderswo nicht viele Knäste gibt, die euch etwas Vergleichbares erlaubt hätten“.

Da fragt man sich selbst, warum hat sie sich darauf eingelassen?

Christina Livadariu: „In diesem Fall wusste ich, dass es auch für meine Kollegen eine sehr interessante Erfahrung bleiben wird. Außerdem war ich mir bewusst, dass eure Einstellung und der Umgang mit den Protagonisten dieses Projekts das zukünftige Verhalten des Bewachungspersonals beeinflussen werden“.  Und dieser Effekt scheint eingetreten zu sein.

Sechs Monate später meinte einer der Insassen auf die Frage, ob unser Aufenthalt irgendeine Veränderung in dem Gefängnisalltag gebracht hätte: „Ihr habt die Atmosphäre ziemlich verändert“. Und ein Mithäftling fügte hinzu: „Einige von uns haben seit Jahren nicht mit Leuten von außerhalb der Mauern gesprochen. Weil niemand sie besucht. Die täglichen Gespräche mit euch und die Möglichkeit, euch unsere Nöte und Sorgen mitzuteilen, waren eine Erleichterung für uns“. Die Angst der Häftlinge vor Bespitzelung war trotzdem nie ganz gewichen. Der Insasse meinte dazu: „Die Jungs auf meiner Zelle hatten solche Befürchtungen geäußert. Deswegen waren sie nicht damit einverstanden, als Teona (Regiestudentin aus Bukarest) so viele Stunden in der Zelle drehen wollte. Man weiß ja nie…“

Die augenfälligste Form der Intervention in die „Hausordnung“ hat Pavel Mozhar vorgenommen. Er stattete seine Protagonisten mit kleinen Videokameras aus. Damit konnten sie unbewacht auch nach Zelleneinschluss drehen. Pavel erhoffte sich, damit einen authentischen Blick von innen zu erhalten, die er und sein Kameramann nie selbst herstellen könnten. Diese Bilder wurden Teil seines Films VIZITATOR. In ihrer Unmittelbarkeit kontrastieren sie stark mit den ästhetisch komponierten Aufnahmen seines Kameramanns Jonas Römmig, im Film als Blick von Aussen erkennbar: Ein Sinnbild des Dilemmas in dem sich Pavel selbst befand.

Ein Insasse, der an dem Filmprojekt nicht beteiligt war, nutze diese Gelegenheit, Selfies von einem verbotenen Zellen-Umtrunk mit einer der Kameras zu drehen. Diese Bilder wollte er später nach draußen schmuggeln. Dies macht deutlich wie divergent die Interessen an dieser außergewöhnlichen Begegnung sein können und wie unkalkulierbar solch ein gutgemeintes Vorhaben des Regiestudenten war. Nichtsahnend brachte Pavel die bisherige Ordnung mit dieser ungewöhnlichen „Freiheit“ durcheinander. Dies führte letztendlich zu einer Prügelei zwischen den Insassen und deren Bestrafung.

Solche Abweichungen von der Norm waren auch den Wärtern nicht geheuer. Ein Sozialarbeiter meinte dazu: „Ich habe erlebt, wie ein Insasse seinen Wärter mit der Kamera verfolgte bzw. filmte. Mit der Kamera, die ihr ihm zu Verfügung gestellt habt. Man sah dem Beamten an, dass er sich dadurch verwundbar fühlte. Es war eine Demütigung für ihn und der Insasse wusste das. Die Kamera war in seiner Hand ein Machtinstrument. Die Rollen waren auf einmal vertauscht und der Wärter empfand sich als der Schwächere“. Die geschilderte Situation illustriert vielleicht am besten, wie das Wesen dieses Systems des Freiheitsentzugs durch unser bloßes Dasein ins Wanken geriet.

Aufgrund der systemischen Gegebenheiten des Strafvollzugs, die eher zum Tabuisieren verleitet und scheinbar nur mit strengen Regeln und Verboten funktioniert, waren während der Dreharbeiten alle Akteure (Studierende, Insassen, Bewacher und Sozialarbeiter) mit einer neuen, ungewöhnlichen Situation konfrontiert, in einem Spannungsfeld zwischen wie weit und nicht weit genug. Diese Grenzsituation war die beste Gelegenheit seitens der Studierenden die eigenen Vorurteile und die eigene Position als Filmstudierender und Mensch zu hinterfragen, eine prägende und notwendige Erfahrung für diese werdenden Filmemacher*innen. Dazu zwei Erfahrungsberichte von Studierenden:

„Für mich war die Werkstatt ein Highlight im Masterstudium. Ich denke als Gast in einem Gefängnis in Rumänien zu sein, hat in vielen von uns diverse Gefühle hervorgerufen, – von Sympathie den Insassen gegenüber bis hin zu Unsicherheit und Schutzlosigkeit. Vor allem musste man sich immer wieder in Situationen aktiv positionieren, wo es kein eindeutig richtiges oder falsches Handeln gab. Man beginnt über das Gefängnis als Institution zu reflektieren, über Benachteiligungen und Privilegien, über zwischenmenschliche Beziehungen und vor allem über die eigene Arbeit als Dokumentarfilmer.” (Jonas Römmig, Masterstudiengang Cinematography)

„Während meines Studiums an der Filmuni habe ich mich immer wieder gefragt, warum ich Filme machen möchte. Der Satz, man soll Filme nur machen, wenn man ohne sie nicht leben kann, hat mich nach jedem Projekt verunsichert. Wofür diese monatelangen Qualen jeglicher Art? Ein Beruf voller Unsicherheiten noch dazu. Im Hinblick auf diese Fragen fühlt sich die Rumänien-Werkstatt wie ein Wendepunkt in meinem Studium an. Ich glaube, die dokumentarische Form ist der Grund, weshalb ich Filme machen möchte. (…)  So habe ich mich in Rumänien endgültig in die dokumentarische Arbeitsweise verliebt. In ein kleines Team, in dem sich jeder auf jeden und auf die gemeinsame Reise einlässt, eben weil es so klein ist und niemand untergehen kann… in die Möglichkeit unmittelbar zu entdecken, zu zweifeln, zu scheitern, zu verwerfen und Neues zu suchen. (…) In das Verlassen der eigenen Komfortzone. Jemand sagte zu mir während der Werkstatt: „Es geht gar nicht um das Material, welches du an diesem Ort drehst. Es geht darum, was du dabei über diese Menschen und dich selbst etwas erfährst.“

Es ist interessant: Der einzige Grund, weshalb wir an diesen Ort gegangen sind, waren unsere Kameras und wir sind mit mehr als nur gedrehtem Material zurück gekehrt. Das mag selbstverständlich klingen, aber für mich wirft das weitere Fragen auf. Was, wenn es beim dokumentarischen Arbeiten so gesehen eigentlich gar nicht um den Film geht? Sondern darum, wie man den Menschen und ihrer Welt begegnet, inwieweit man sich auf sie einlässt, sich ausliefert und was man dabei lernt.“ (Pavel Mozhar, Masterstudiengang Regie)

Ein weiterer Film der Werkstatt, der sich im Kern mit der Intervention und der Beziehung zwischen dem Filmemacher und seinem Sujet auseinandersetzt ist DISTANCE IN BETWEEN von Leonard Schmidt, ein reflexiver Essayfilm, der die Überbringung einer Videobotschaft (eines Gefängnisinsassen) durch den Filmautor an die Frau des Gefangenen, die in Italien lebt, zum Inhalt macht.

“Do I have the right to step into her live?” ist die Kernfrage, die sich Leonard Schmidt im Film stellt, als er mit laufender Handykamera vor der Wohnungstür der nichtsahnenden Ehefrau steht. Verantwortungsvoll und künstlerisch konsequent entscheidet Leo im Moment des Eintritts die Kamera auszuschalten. Der Film mit schwarzem Bild läuft weiter und erzählt mit der Stimme von Leo, wie die Frau ihm aufmacht und bereit ist trotz anfänglichem Misstrauen die Videobotschaft anzuschauen. Das Bild startet wieder in dem Moment als die Videobotschaft läuft. Zu sehen ist der Insasse wie er sich mit seinem Bruder vor der Kamera postiert, sein Blick direkt ins Objektiv gerichtet. Wir als Zuschauer sind peinlich berührt, als Voyeure dem direkten Blick des Insassen ausgesetzt zu sein und seine Wörter zu hören die eigentlich nur für seine Frau bestimmt sind. Das ist ein schmaler Grat zwischen Voyeurismus und emotional authentischer Anteilnahme.

Nach den ersten Sätzen der Videobotschaft wird die Tonspur stumm geschaltet. Wir können nur zuschauen wie der zärtliche Blick des Insassen die Frau trifft und uns vorstellen, was er ihr weiterhin mitteilen wird. Mit diesem künstlerischen Eingriff verlässt auch hier der Film das reine Dokumentieren und erzählt universell von der Liebe und der Tragik  in menschlichen Beziehungen. Nebenbei bewahrt er die Privatsphäre seiner Protagonisten.

Als Leo’s Film fertig war, nahm er die Schwierigkeit auf sich, zuerst seinem Protagonisten den Film zu zeigen und im Nachhinein um Erlaubnis für die Veröffentlichung zu bitten. Dieses Unterfangen war aufwändig, denn der Protagonist war inzwischen verlegt worden und die Besuchserlaubnis war nicht mehr so einfach zu bekommen wie in unserem „alten“ Gefängnis.